Warum handeln wir nicht?

Wenn ich uns so beobachte, wie wir leben, wenn ich durch die Straßen gehe und niemand den Notstand ausruft bei so vielen Autos, Flugzeugen, Fleischerzeugnissen und Abfällen, denke ich über unser "Bewusstsein" nach. Was sagt uns die mutwillige Selbstzerstörung einer Gesellschaft entgegen jedem besseren Wissen? Widerlegt sie nicht ein für allemal so viele politische Ideen vom mündigen Menschen, dem politische Macht zugestanden werden muss? Warum tun wir, was wir da tun - immer noch und ununterbrochen, sogar mehr denn je? Sind wir bereits so ferngesteuert? Hat jemand oder etwas unsere Gehirne derart gehijackt, dass wir unseren freien Willen verloren haben? 

In solchen Momenten, erschafft mein Kopf sich Bilder, an denen meine wunde Seele sich entlang hangelt, auf der Suche nach Antworten auf die Frage: Warum handeln wir nicht?

 

Es muss so sein, dass es dem menschlichen Gehirn aus irgendeinem Grund an Erdmasse fehlt. Vielleicht Mineralienmangel. Oder Sauerstoff, wer weiß. Ich meine die Art Grund, auf dem die Dinge wie Keime Wurzeln schlagen. So dass daraus etwas erwächst - Handlungen zum Beispiel. Denn es braucht einen fruchtbaren, nährstoffreichen, gut belüfteten, aber durchaus soliden und damit tragfähigen Boden, auf dem aus Gedanken Worte, aus Worten Erkenntnisse und aus Erkenntnissen Taten werden. Diese drei Dinge müssen auseinander erwachsen, wie die Wurzeln, Stengel und Blüten ein und derselben Pflanze. So entstehen nämlich Veränderungen in unserer Welt, dadurch, dass Gedanken Wurzeln in uns schlagen, deren manchmal widerspenstiges Geäst uns die Richtung strubbelig macht. Uns umlenkt. Sich dem Sonnenlicht zuwendet, um das Bild mal kurzerhand pathetisch aufzuladen. 

Aber diesen Grundstoff Erde scheint es in uns nicht mehr zu geben, Samen in Form von Informationen fliegen ja genug rum, sie gleiten nur aus irgendeinem unheimlichen Grund an uns ab und können kaum Wurzeln schlagen.

All das Wissen, alle Fakten über den Zustand unserer Welt scheinen nur so an uns vorbei zu rauschen, als hätte man uns ausgesetzt auf dem Mittelstreifen einer Autobahn. 

In einem nicht enden wollenden, rasanten Strom aus Geschwätz, verdammt zum daneben Stehen, vereinzeln am Ende nicht die Menschen, sondern die Gehirne der Menschen, weil ihnen die Nahrungsgrundlage entzogen wurde, weil keine Wahrheit es scheinbar wert ist, dass man sich dafür in die Gefahr bringen möchte, von ihr überrollt zu werden. Anstelle von feinen, erstmal ungefährlichen Samen, die in unseren Köpfen Triebe schlagen sollen, kommt es unserem Hirn vor, als müsse es sich eher vor zuviel Feinstaub beschützen. Anfangs versucht es ja noch, zu differenzieren, sich selbst zu regulieren, sich nach zu viel Input zu reinigen, aber irgendwann wird das alles immer anstrengender und unser Hirn setzt das Differenzieren immer öfter aus. Da es sich gegen den drängenden Datenstrom nicht wehren kann, staut es nun also auch zentnerweise Mist an. Dieser Mist gärt nun so lange in uns, bis uns einer auf ein bestimmtes Thema hin kitzelt und den Mist aufwirbelt. Aber anstatt eigene Gedanken zu diesem Thema zu generieren, die man mühsam aus Fakten, kontextueller Abstraktion und einem guten Schuss eigener Kreativität synthetisieren müsste, rutscht unser Reaktionsgenerator immer öfter eine Etage tiefer, also in die Bauchgegend. 

 

Ich habe nichts gegen die Bauchgegend, don‘t get me wrong. Super oft hat die mir in Null Komma Nix Sachen vorausgesagt, die sich anschließend bestätigt haben, oder im schlimmsten Fall musste ich meine bäuchliche Befürchtung schmerzhaft durchleben, nur, damit ich dann sicher wusste, was ich von vornerein längst hatte kommen sehen. 

Dieses Phänomen kennt jeder. Deswegen lassen wir auf unser Bauchgefühl auch nix kommen. Was von dort kommt, das kommt empfunden ganz aus uns selbst, das hatte keine Zeit oder keine Lust, sich ins Dachgeschoss zu den Neuronen durchzukämpfen, das musste seiner Realität spontan begegnen. Leider ist die Trefferquote dieses Bauchgefühls nicht zuverlässig ermittelbar und so liegen wir in Wahrheit viel öfter daneben, als wir von der Außenwelt korrigiert werden. 

Meine Erfahrung ist: Wenn man nur lange genug mit seinen eigenen Annahmen verbringt, schafft man es unter anderem, dass aufgrund des geliebten Bauchgefühls brisante Fakten in kürzester Zeit ihre Brisanz verlieren und zu etwas aufweichen, das an in Tee gefallenen Zwieback erinnert. Wohingegen man so allein im eigenen Kopf eigentlich harmlose Dinge derart aufbläst, dass die Gefahr, die eigentlich von Fakt A ausgehen sollte nun umstandslos auf Fakt B übertragen wird, obwohl objektiv nichts dafür spricht. Anders konnte sich sicher auch Hannah Arendt nicht erklären, weshalb respektable Denker und zudem Freunde von ihr zu Hitlers Zeiten auf einmal meinten, an dessen Vision könne durchaus irgendetwas dran sein. Vielleicht, weil etwas, das ausschließlich schrecklich war, von der Wurzel bis zum letzten Auswuchs, ihnen einfach nicht originell genug vorkam. Nein, die Welt konnte nicht bloß Barbarei, Leid und Vernichtung meinen, da musste es noch einen Trick dabei geben, etwas anderes, etwas, womit man arbeiten konnte, womit man irgendwie umgehen, ein Element, das man auf irgendeine Weise noch integrieren konnte, wenn man sich nur lange genug anstrengte, es zu zerdenken. Solche Impulse sind erstmal menschlich, weil anscheinend hochtrabender Narzissmus („Ich kann die wahre Absicht eines Massenmörders besser verstehen als der selbst“) und ein gewisser Kontrollzwang eben menschliche, wenn auch ziemlich lästige Eigenschaften sind. 

Eine ganz andere Erklärung sei hier aber auch noch zur Ehrenrettung einiger weniger bemüht:

Ein paar von uns wollen sich vielleicht nicht an einem schwarz-weißen Weltbild die Finger verbrennen und haben der Einfachheit halber gleich eine komplette "schwarz-weiß-Allergie"im Sinne der Demokratie bekommen. Die haben einfach Angst vor der Wahl "entweder Veränderung oder der Tod". 

Vielleicht tragen sie deshalb einen reflexhaften Widerstand gegen sogenannte „unumstößliche Fakten“ in bezug auf den Zustand der Welt in sich, weil sich Unumstößliches undemokratisch ausnimmt, weil sich angeblich so klare Wahrheiten in der jüngeren Menschheitsgeschichte so oft als fiese Fallen herausgestellt haben. Vielleicht steckt ja hinter jedem angeblichen "Fakt" eine Lobby, eine Absicht, ein böser Wille? 

Könnte ja sein, es ist sogar ein zutiefst humanistisches Bestreben, hinter einer klaren Aussage gleichzeitig ihre Aufweichung oder besser: ihre Abweichung zu suchen, entweder ein komplexeres Bild zu zeichnen oder schlicht Einspruch zu erheben, einfach, um sich der eigenen Fähigkeit, Einsprüche zu erheben zu vergewissern...

 

Kann alles sein, man weiss es nicht. 

 

Problematisch wird es dann, wenn die Kausalkette ganz kurz aber dafür hart ist.

Zum Beispiel: Der kleine Thomas will unbedingt das Förmchen der kleinen Sandra klauen, aber die will es partout nicht hergeben. Der Impuls in seinem Bauch sagt: "Hau ihr einfach eine runter, dann gibt sie dir das Förmchen". Wenn in dem Moment kein Erwachsener zur Stelle ist, der es besser weiss, schreitet Klein-Thomas zur Tat und folgt seinem Impuls, seiner Lust oder wie auch immer man es nennen will. Dem kürzesten Weg zu dem, was er in dem Moment haben will. In seinem Kopf existiert kein Spekulativ á la "Aber wenn ich Sandra haue, dann weint sie und ist traurig und gibt mir das nächste Mal erst recht kein Spielzeug mehr freiwillig ab und in so einer Welt möchte ich nicht leben." Oder: "Wenn ich Sandra haue und sie weint, kommt bald ein Erwachsener und schimpft mit mir und ich bekomme vielleicht eine Strafe und das wäre dann ein umso anstrengenderer Zustand." 

Manchmal denke ich, wir alle sind der kleine Arschloch-Thomas und die Aktivisten und Umweltschützer sind die Erwachsenen. Blöderweise sind die Arschloch-Kinder aber mittlerweile viel mehr und viel mächtiger als die paar armen Aktivisten und Aktivistinnen geworden, sie haben längst nicht einen Bruchteil der Macht, die so ein Erzieher im Kindergarten hat. So eine Macht hat nämlich, na? Genau: Nur der Erzieher im Kindergarten über uns. 

Also sind wir alle für uns selbst und blöderweise gleichzeitig auch noch für alle anderen verantwortlich. Shit. 

 

Der Klimawandel is real und es werden keineswegs Dinge gegen ihn unternommen, die bisher viel geholfen hätten. Allein diese Tatsache verströmt eine Verzweiflung, die so in mir wütet, dass ich angefangen habe, mit anderen Leuten über das Thema zu sprechen. 

Dabei musste ich erschüttert feststellen: Nicht nur ist das Thema Klimawandel ein Tabu-Thema (die Menschen werden von einer Art Horror erfasst, der in Sekundenschnelle in ihnen den Hebel zu "ist eh schon zu spät" umlegt), nein, diejenigen, die kurz ernsthaft über eine Lösung nachdachten, kamen doch tatsächlich mit der guten alten Atomkraft als "am Ende grünste und rentabelste Lösung" um die Ecke. Dreimal hätte ich mich fast ziemlich gestritten, als das gesagt wurde. Aber dann wurde mir klar, dass auch mit der reinsten und schönsten Emotionalität bloß in der Kunst Siege gefeiert werden - bei politischer Überzeugungsarbeit hingegen waren andere Qualitäten gefragt. Also schluckte ich dreimal an drei verschiedenen Orten mit drei mir eigentlich sehr lieben Freunden meine Wut hinunter und nahm mir fest vor, mich zu allererst selbst zu überprüfen - es stand immerhin drei gegen eins. 

Also las ich. 

 

Was an diesem Beispiel ganz interessant ist, ist dies: Ob ich "Recht" habe oder nicht, bleibt angesichts der zukünftigen Risiken in Sachen Atomkraft (Müll-Lagerung, Unfälle, verseuchte Gebiete, terroristische Anschläge) und angesichts der bereits bekannten Probleme (Müll-Lagerung, Unfälle, verseuchte Gebiete) weiterhin im Nebel. Man findet, trotz Fukushima weiterhin genug Menschen, die sagen, naja, was sind schon Tschernobyl und Fukushima? Eine Bilanz, die nach über einem halben Jahrhundert Kernkraft mit grade mal zwei Super-Unfällen, läppischen 300.000 Tonnen Atommüll und mehreren tausend Kilometern verseuchter Landstriche weltweit aufwarten kann, die ist ja wohl noch kein Grund, die vielen unfallfreien Jahre sauberer Kilowattstunden, gewonnen durch Kernkraft, in den Dreck zu ziehen. 

 

Was gibt es also abschließend von meiner Seite zu diesen großen Themen zu sagen?

Ich „glaube“ an den Klimawandel? Genauso, wie ich „glaube“, dass Atomkraft langfristig großer Scheiss ist? Oder positiv formuliert: Ich „glaube“ an eine Welt ohne beides, bzw. ohne den klimatischen Tipping Point und ohne, dass uns die Atomkraft dahin bringt? Die Antwort lautet: Ja, irgendwie schon. Wenn es möglich war, die deutsche Energiegewinnung auf 45,6% (Stand 2018) erneuerbare Energien umzulegen, dann ist da noch mehr möglich. Wir haben immer noch viel, viel Geld aus der drecks Rüstungs- und der drecks Autoindustrie übrig, auch wenn das BIP momentan etwas zurückgeht, denn das tut es grade weltweit. Mit all dem Geld, was uns zur Verfügung steht, könnte man jetzt komplett auf erneuerbare Energien umrüsten und auch endlich diese dumme Braunkohle Geschichte sein lassen. Dann fallen auch keine sympathischen jungen Kölner mehr von den Bäumen und sterben beim Natur schützen, sprich, beim die Drecksarbeit für uns alle machen. 

Fest steht: Wenn nicht ganz bald irgendjemand, den man ernst nehmen kann, anfängt, ein gutes Vorbild in Sachen Klimaschutz für die gesamte Welt zu sein und sei es mit noch so viel Blut erkauft worden und noch so sehr geheuchelt, wird bald (in irgendwas zwischen 15 und 30 Jahren) eine klimatische Kettenreaktion in Gang gesetzt, die niemand mehr aufhält. 

Die schlichte Vorbild-Funktion als erster Schritt ist alles, was uns bleibt. Sie ist unser gesamter Handlungsspielraum – wenn wir nicht komplett wahnsinnig sind. Denn was anderes ist „Wahnsinn“ als ein Handeln, das sich dem eigenen Kenntnisstand widersetzt?

Und wie kann eine Gesellschaft ins Handeln kommen, wenn bereits vor dem Keim, dem Samen des Handelns, im verdammten Gespräch schon die Schotten dicht gemacht werden und die Menschen sich auf eine neue, gruselige Scholle zurück ziehen auf der sie bedauernd mit den Köpfen wackeln und dieses neue Mantra aufsagen: "Ist eh schon alles zu spät"? Ich weiss nicht, wie es euch geht, aber bestehen wir wirklich weiter auf unser Wiener Schnitzel? Auf unseren Urlaubsflug? Auf unseren Inlandsflug? Auf all den Sandkastenförmchen, die wir uns einfach so nehmen als wären wir drei? Wir wissen es doch besser. Wem da Informationen fehlen, der kann sie nun wirklich leicht bekommen. Und um das noch klar zu stellen: Hier geht es nicht um einen Konsequenz-Wettbewerb. Hier geht es ums Anfangen. Ums Tun. Heuchelt doch in Phase 1, meinetwegen. Aber geht endlich mit dem Klimawandel und der nötigen Energiewende so um, wie es den Themen angemessen ist: als die ultra krasseste Krise und Charakterprobe, die wir zu bestehen haben und aus der soviel Elend erwächst, was wir dann zur Belohnung auch noch im Mittelmeer ertrinken lassen. Ein paar Jahre lang können wir uns jetzt noch einreden, dass wir hier eine Festung errichten können und andere, die über die Meere kommen einfach Pech haben. Als wäre das allein nicht barbarisch genug. Aber früher als uns lieb ist werden wir erleben, dass wir unser eigenes Grab geschaufelt haben und Dinge über uns hereinbrechen werden, vor denen wir keine Mauern bauen können und die wir weder mit Geld noch mit irgendeiner Technologie von uns und unseren Kindern abwenden können. 

Hier kann doch hinterher niemand behaupten, er hätte von nichts gewusst. 

 

Ich wüsste wirklich nicht, was wir grade hier alle besseres zu tun hätten, als wenigstens zu versuchen, die Menschheit zu retten. 

Der Planet erholt sich schon wieder von uns. Wir sind am Ende die Gearschten.