Joan Baez

Als der Alarm losging und Joan Baez in den Schutzbunker in Hanoi, Vietnam verschwand, spürte sie ihre Sterblichkeit wie noch nie zuvor. Elf Tage lang wütete das schlimmste Bombardement des gesamten Vietnam-Kriegs über ihrem Kopf und alles, was sie denken konnte, war „Lieber Gott, bitte nicht mich“.

Sie wirkt heute wie damals auf mich wie eine eher unscheinbare Frau. Ihre großen, braunen Augen blicken ihr Gegenüber gerade und freundlich an. Man spürt keine irrationale Emotion oder gar Verrücktheit in ihrer Seele, nur vielleicht etwas mehr Klarheit und Geradheit als bei anderen Künstlern. Von außen sieht es fast aus wie ein bisschen mehr Durchschnittlichkeit. Dahinter verbirgt sich hingegen eine ganz und gar überdurchschnittliche Kraft, die Joan Baez in die Lage versetzt, die Abgründe der Menschheit zu besuchen. Eine Kraft, die ihr ganz abseits von ihrem musikalischen Schaffen hilft, sich nicht auf sich selbst zurückwerfen zu lassen, sondern immer weltlich zu denken und zu handeln, sich immer auch als relevanten Teil einer Gesellschaft und als Vertreterin des Humanismus zu begreifen. 

 

Dieses weltliche Denken und Handeln ist in der letzten Zeit innerhalb der Musikszene weltweit schier explodiert. Zumindest, wenn man sich die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre so anschaut. Beinahe alles ist politisch geworden und glücklicherweise sind die allermeisten Bands und Künstler (zumindest in meiner Bubble) politisch eher links. Wenn ich allein von Deutschland ausgehe, dann gibt es hier unheimlich viele gute Moves, Bestrebungen, durch die eigene musikalische Bekanntheit auch politische Inhalte zu transportieren, auch und vor allem auffällig bei Künstlern und Künstlerinnen, die vorher in dieser Hinsicht eher zurückhaltend waren. Speerspitzen wie die Rapperin Sookee sind und bleiben eine Ausnahme – das ist eine Form des Aktivismus, der mir in diesem rein persönlichen Ausmaß, in dieser Tragweite, die das alltägliche Leben einer Künstlerin einnimmt, so sonst noch nicht vorgekommen ist, zumindest nicht mit so einer breiten Öffentlichkeit. Viel eher ist es bei den meisten eine Art effektiv genutzter Nebenschauplatz: Es gehört zum guten Ton, sich heutzutage politisch zu äußern und auf Missstände aufmerksam zu machen, vielleicht die GEMA anzurufen und denen zu sagen, dass es nicht angeht, dass im Gremium nur Männer sitzen, die Männer nominieren, vielleicht Gruppen von Frauen, die Festivals organisieren, in denen hauptsächlich weibliche Acts auftreten, oder noch viel ganzheitlichere und damit progressivere Ideen, die einfach allen Menschen eine ausbalancierte Plattform schaffen möchten, egal ob männlich, weiblich, drittgeschlechtlich, egal welcher Herkunft. Im ökologischen Sektor passiert nach meinem Empfinden hingegen immer noch relativ wenig, was die kreative Szene angeht. Klar gibt es hierzulande Viva Con Agua, wo eine Menge Prominente mithelfen, Wasserprojekte weltweit zu unterstützen, aber da hört’s irgendwie auch schon auf. Es scheint einfach noch nicht genug von seinem liebestötenden, wollbesockten Öko-Image verloren zu haben, sich für die Umwelt einzusetzen. 

Grüne Festivals sind (bis auf zu meiner großen Überraschung das Melt!-Festival) deutschlandweit eher die kleinen Nachzügler als die großen Riesen, da machen Dänemark mit dem Roskilde Festival oder natürlich das legendäre Glastonbury schon viel länger vor, wie es geht. Nachhaltigkeit scheint übrigens ebenso ein Geschäft zu sein wie jedes andere Thema auch, das sich in der Öffentlichkeit durchsetzen will. Mit dem Stichwort „Nachhaltigkeit“ kann man heutzutage viel Aufmerksamkeit bekommen und so am Ende auch seinen Umsatz steigern. Was ich daran gut finde, ist, dass es auf diese Weise auch ein Argument für diejenigen gibt, die nicht von der Tarantel gestochen politisch erleuchtet jede Nacht schweißgebadet aufwachen und sich fragen, wieviele Jahre es noch bis zum Ende der Menschheit sind wie Greta Thunberg oder manchmal ich. Durch die ökonomischen Vorteile werden plötzlich auch Menschen zum nachhaltigen Handeln motiviert, die ohne den Hype der Öffentlichkeit gar nicht ökologisch denken würden. 

 

Alles, was sich auf der Welt ändern soll, braucht nunmal einen Hype. Leider kommt der oftmals erst dann in Gang, wenn das Thema bereits so weit fortgeschritten ist, dass man von einer „Notsituation“ sprechen kann. So geschieht es gerade auch in Sachen Erderwärmung. Wäre die Lage nicht so ernst, wäre es nicht Fünf vor Zwölf, ich bin ganz ehrlich, dann würde ich wahrscheinlich auch weiterhin lustig mehrmals im Jahr irgendwohin fliegen und mir um Nachhaltigkeit eher am Rande und als „Lifestyle“-Entscheidung Gedanken machen. Aber es steht mittlerweile so schlimm, dass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als mich zu zwingen, mich mit der Welt und den auf ihr lebenden Menschen zu konfrontieren, auch wenn einem das regelmäßig den Tag versauen kann. Ich hatte mit meinen Eltern ein nicht unspannendes Telefonat in Sachen ökologischer Aktivismus. Meine Ausgangssituation ist die: Ich platze bald vor innerem Druck und möchte unbedingt aktiv werden. Da ich gerade mitten in meiner Album-Kampagne stecke, muss ich mit zeitintensivem Engagement noch bis zum Mai warten. Bis dahin bleiben mir nur Recherchen, Gespräche, Aufschriebe, Gedankenordnung und der Eintritt bei den Grünen. Bei dem Gespräch mit den Eltern sprach ich zuerst mit meinem Vater und redete mir meinen Frust von der Seele, dass ich es so dermaßen fehl am Platz fände, sich jetzt noch en detail mit Feminismus auseinanderzusetzen, wo doch das Dach unseres Hauses brennt. Wenn nur all die politische Energie endlich dahin gebündelt würde, wo sie hingehört, nämlich in den Umweltschutz... Dann und nur dann hätte die Menschheit eine Chance. Ich sah die Menschen vor lauter selbstreferenzieller Befindlichkeiten schon ihren wahren Abgrund übersehen. Mein Vater war da anderer Ansicht. Er sagte, es sei doch kein Zufalls, dass es unter den Menschen zwei auseinander driftende Tendenzen gäbe: die einen, die andere unterdrücken, homophob und für Kohlekraft sind und die anderen, die für Chancengleichheit und Umweltschutz sind und versuchen, die Menschheit zu retten. Und dass man nur einen Hauch einer Chance zum Sieg habe, wenn man die Gräben zwischen den Menschen hartnäckig bearbeiten würde. Als er das sagte, wurde ich sehr, sehr müde. So hat die Menschheit ja keine Chance, dachte ich, wenn es wirklich so ist, wie mein Vater sagte. Für mich stellte sich der Klimawandel immer als ein „Problem außer Konkurrenz“ dar, als ein Konflikt, der nicht nach den üblichen Streitgepflogenheiten unter den Menschen ausgetragen werden muss, weil er eine so eindeutige Problematik hat, dass es gar keine zwei Meinungen über ihn geben kann. 

 

Gestern habe ich eine Reportage über Kentucky, USA gesehen. Da wohnen viele Menschen, die allermeisten Evangelisten, Fox-News verseuchte, abgehängte Weiße, die Obama für seine Reformen hassen aber auch ganz real darunter leiden, dass der Kohleabbau eingedämmt wurde. Trump-Wähler halt. Für die gibt es den Klimawandel nicht, weil er ihnen von den falschen Leuten erzählt wurde und weil es keine gut zuende gedachten Alternativen für sie abseits der Kohle gibt. Und es sind wirklich viele, das ist das Problem. Mein Vater hatte natürlich recht: Kein Problem, was die Menschheit hat, kann abseits von menschlichem Konsens gelöst werden. Auch wenn alles dadurch um ein vielfaches komplizierter wird. Manchmal denke ich: Wenn es dummen Menschen zu kompliziert ist, sich mit vielen Details auseinanderzusetzen und sie in Schlagzeilen denken, wenn sie sich politisch positionieren, dann fehlt ja vor allem die eingängige Schlagzeile, die sagt, wenn wir jetzt nicht umrüsten, werden wir alle sterben. Die Einfachheit des Problems kann seiner Lösung zum Vorteil werden, indem die Umweltschützer lernen, sich klar und deutlich auszudrücken, eine Sprache zu finden, die auch der Beschränkteste versteht. Fox-News für die gute Sache, sozusagen. Das Problem scheint, abgesehen von der Sender-Empfänger-Skepsis auch stärker die Form als der Inhalt zu sein.

Solange Menschen einen Typen dafür bewundern, dass er „sagt was er denkt“ und die Dinge nicht unnötig verkompliziert, ja, nichts leichter als das, oder? Wen will man eigentlich durch differenzierte Sprache oder komplexe Tabellen noch beeindrucken? Man muss Slogans finden, Dystopien prägnant darstellen, sodass jeder Depp kapiert, was auf dem Spiel steht. Genauso macht es Greta Thunberg („Our house is on fire. I don‘t want your hope. I want you to panic“) und genau deswegen konnte sie eine Bewegung in Gang setzen, die mittlerweile viele tausend Schülerinnen und Schüler deutschlandweit jeden Freitag auf die Straßen treibt unter dem Motto „Fridays for future“. 

 

Wie Joan Baez es damals genau gemacht hat, weiß ich nicht. Ich finde ihre Musik jetzt auch nicht soooooo unglaublich spannend. Aber die Friedensbewegung in den USA, von der sie ein wichtiger Teil war, war stark und spaßig, geprägt von Musik und Kultur, hat Stars hervorgebracht und hat sich durch gute Slogans unauslöschbar ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wenn wir heute doch genau diese Rezeptur benutzen würden, sie aber noch um ein paar Grad verschärfen könnten, noch militanter, noch klarer, noch mahnender, einfach der Situation angemessen aufrüttelnd... 

 

Am Ende des Telefonats, nachdem wir uns schon verabschiedet hatten, meinte mein Vater: „Hier, deine Mutter möchte nochmal kurz mit dir sprechen.“

„Hallo Mama“, sagte ich. 

„Hallo, du, ich wollte dir noch was sagen. Und zwar habe ich in den Achtzigern genauso gedacht wie du: Es geht doch um unser Leben. Das muss doch der Blödeste einsehen! Und deswegen haben wir auch mit unserem Leben versucht, die Natur zu beschützen. Naja. Das wollte ich dir sagen! Ich verstehe dich.“

Danke, Mama.